2016-06-24 Keine Aufklärung im Fall Jusef El-A.

Mitte Juni endete ein Prozess vor dem Berliner Landgericht gegen zwölf Neuköllner Jugendliche. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lautete „besonders schwerer Landfriedensbruch“ und Beteiligung an einer Schlägerei „durch die der Tod eines Menschen verursacht worden ist“. Einige von ihnen wurden zu Geldstrafen und Leistung von Sozialstunden verurteilt, teilweise kam es zu Einstellungen des Verfahrens. Sven N., der Jusef El-A. im Laufe dieser „Schlägerei“ mit mehreren Messerstichen tötete, wurde weder angeklagt noch musste er vor Gericht als Zeuge aussagen.

Was war passiert?

Laut Zeugenaussagen entstand am 4. März 2012 zwischen zwei weißen Erwachsenen und einigen Jugendlichen mit mehrheitlich migrantischem Hintergrund auf einem Neuköllner Fußballplatz ein Streit, der schließlich in eine Schlägerei eskalierte. Die eine Seite – Sven N. und Oliver H. – zogen sich nach dem Streit daraufhin in eine Wohnung in der Nähe der High-Deck-Siedlung zurück. Ein weiterer Freund, Sascha V., wurde hier noch zur Unterstützung hinzugeholt. Eine Gruppe von Jugendlichen traf zusammen in der Nähe des Hauses. Dann kam Sven N. bewaffnet mit einem Küchenmesser aus dem Haus und ging auf die Gruppe der Jugendlichen zu. In der folgenden Auseinandersetzung tötete er den unbewaffneten Jusef El-A. mit mehreren Messerstichen. Sven N. stellte sich und war bereits nach wenigen Tagen wieder auf freiem Fuß, da die Polizei sein Verhalten als Notwehr wertete. Die Staatsanwaltschaft folgte dieser Einschätzung und stellte die Ermittlungen gegen Sven N. schließlich ein.

Widersprüche in den Ermittlungen

Gegen Sven N. wurde keine Anklage erhoben, obwohl einige wichtige Anhaltspunkte vorliegen. Er ist einschlägig vorbestraft wegen einem Gewaltdelikt. Eine als Schwert/Machete beschriebene Waffe am Tatort wird in den Ermittlungsakten zunächst der Gruppe um Sven N. zugeordnet, die Staatsanwaltschaft ordnete diese Waffe dann jedoch der Gruppe der Angeklagten zu. Zum Tatzeitpunkt war Sven N. 34 Jahre alt, während die in diesem Prozess Angeklagten um die 17 Jahre alt waren. Sven N. war eindeutig bewaffnet, Jusef El-A. nicht. Fest steht außerdem, dass Sven N. nicht die Polizei rief, sondern sich aktiv aus dem Haus begab – bewaffnet mit einem Messer. In einem Prozess gegen Sven N. hätte man diese und weitere Anhaltspunkte, die gegen Notwehr sprechen, klären können. Doch die Staatsanwaltschaft hielt es für zweifelsfrei erwiesen, dass es sich bei den tödlichen Messerstichen um Notwehr gehandelt habe. Es wurde ein Mensch getötet. Die Hintergründe dieser Tat gewissenhaft und sorgfältig aufzuklären, das ist das Mindeste, was Ermittlungsbehörden in so einem Fall tun können. Dieser Aufgabe sind sie hier nicht einmal ansatzweise nachgekommen. Sie klagten stattdessen die Freunde von Jusef El-A. an.

We call it: Rassismus

Die Ermittler erklärten die Tat von Sven N. nach wenigen Tagen zur Notwehr, die der Gruppe der Jugendlichen hingegen hielten sie für eine „aggressive, bedrohliche und gewaltsame Vorgehensweise“. Um diese ging es in dem Prozess, um die tödlichen Messerstiche dagegen nicht. Auf der Beerdigung von Jusef El-A. konnte man verbitterte Stimmen hören: „Wir sind ja nur Kanaken.“
Dass in dem Fall seitens der Polizei und der Staatsanwaltschaft von Notwehr ausgegangen wird, bedient vorherrschende rassistische (Vor-)Urteile von „kriminellen, aggressiven Ausländern“, die in „Mobs“ durch die Straßen ziehen und Deutsche bedrohen. Diese würden, dieser Logik folgend, dann eben aus Notwehr handeln, auch wenn in der Folge ein Mensch getötet wird. Dieser Fall ist in Berlin nicht der erste, bei dem ein weißer Deutscher einen Migranten tötet und ohne Konsequenzen davon kommt. Es erinnert stark an den Fall des 2003 getöteten Hip-Hopper Attila Murat Aydın, genannt „Maxim“, der ebenfalls durch einen Messerstich ums Leben kam. Der 76-jährige Täter wurde in einem Prozess freigesprochen, weil er von der Situation so überfordert gewesen sei.
Man könnte noch vieles mehr zum Thema Rassismus in diesem Fall schreiben – über den Polizeischutz von Sven N., weil „Racheakte“ gefürchtet wurden oder über die rassistische Medienberichterstattung.
Von Gerechtigkeit jedenfalls kann in dem Prozess gegen die Freunde von Jusef nicht die Rede sein. Bis Mitte Juni waren lediglich sechs Verhandlungstage angesetzt – ein Schnellverfahren also, wie es in vielen Debatten um migrantische jugendliche „Intensivstraftäter“ gefordert wird.
Die Staatsanwaltschaft zielte mit der „Sippenklage“ darauf ab, ein Exempel zu statuieren, statt sich Aufklärung und Gerechtigkeit als Ziel zu setzen.

Kein Signal für Selbstjustiz!

Das Verhalten von Sven N. legt unseres Erachtens Selbstjustiz nahe. Die Aufgabe von Justiz und Rechtsprechung ist neben Aufklärung und Gerechtigkeit auch Prävention – damit so etwas nicht noch einmal passiert. Ein Signal zu senden, dass der gewaltsame Tod eines Menschen nicht bestraft, geschweige denn in einem Prozess aufgeklärt wird, löst gesellschaftlich-politische Konflikte nicht, sondern facht diese weiter an.
Die bittere Wahrheit ist, dass mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Anklage gegen den „Messerstecher“ Sven N. zu erheben, die Familie von Jusef El-A. niemals klären können wird, warum Jusef sterben musste.

Wir solidarisieren uns mit den Angehörigen von Jusef El-A.
Wir senden Ihnen unser tiefstes Mitgefühl.
Wir fordern einen fairen Prozess. Das ist ihr Recht! Dieses Recht ist ihnen verwehrt worden!

Wir fordern Aufklärung und Gerechtigkeit für Jusef El-A.!

Gegen Rassismus – in den Ermittlungsbehörden, im Gerichtssaal und überall sonst!