Pressemitteilung des bundesweiten Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“
Kassel/München/Köln – Die Initiative „Keupstraße ist überall“ und das bundesweite Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ weisen die jüngsten Diffamierungen durch einige MedienvertreterInnen zurück, die sich gegen Betroffene der Nagelbombe in der Kölner Keupstraße und einige NebenklägerInnen im NSU-Prozess richten. Es wird versucht, den Betroffenen des Mordanschlags das Recht abzusprechen, die rassistische Tat anzuklagen. Dieses Recht ist aber nicht verhandelbar. Wir lassen nicht zu, dass die Betroffenen des Neonazi-Terrors in Opfer erster und zweiter Klasse gespalten werden.
(Foto: Demonstration “Für eine Gesellschaft ohne Rassismus – Keupstraße ist überall”, 20.01.2015, München)
Zum Hintergrund: Am 20. Januar dieses Jahres erhoben die Betroffenen des NSU-Nagelbombenanschlages in der Kölner Keupstraße ihre Stimme. Gemeinsam mit der Initiative „Keupstraße ist überall“ und einem bundesweiten Bündnis forderten sie auf einem Aktionstag vor dem Oberlandesgericht in München die vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes. Sie berichteten von dem terroristischen Anschlag des Neonazi-Netzwerks NSU im Jahr 2004 und von den unmittelbaren Verwüstungen und Verletzungen, die diese Bombe angerichtet hatte. Aber auch im Gericht versuchten sie als Zeugen und Zeuginnen deutlich zu machen, dass die Bombe nur der Anfang eines jahrelangen Leidenswegs war, der seine Fortsetzung in Verdächtigungen, Bespitzelungen und Verhören durch die ermittelnden Behörden nahm. Für die Polizei war es ausgemachte Sache, dass die Täter im „migrantischen Milieu“ zu finden seien. Bis zur Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 wurden die Opfer wie Täter behandelt. Sie wurden vielfältigen Unterstellungen ausgesetzt, die allesamt die Grundannahme teilten, dass die türkisch geprägte Nachbarschaft der Keupstraße eine undurchdringliche, verschworene und kriminelle Parallelwelt sei.
Der Anschlag nach dem Anschlag
Auch die Presse hat dieses Bild maßgeblich mitgestaltet und verbreitet. Prominent dabei war auch die Zeitschrift Der Spiegel, die noch im Februar 2011 unter dem Titel „Düstere Parallelwelt“ zu berichten wusste, dass man zwar immer noch nicht wisse, wer hinter der Mordserie an den neun ausländischen Gewerbetreibenden stecke, allerdings gewiss sei, dass der Täter aus dem „migrantischen Milieu“ stamme (21.2.2011). Diese Diffamierungsgeschichte war für die Betroffenen aus der Keupstraße mit dem Schrecken des Bombenanschlags untrennbar verflochten und stellte dessen Fortsetzung dar; für sie war es der Anschlag nach dem Anschlag.
Betroffene können Hinweise zur Aufklärung des NSU-Komplexes liefern
Diesem Zusammenhang wurde vom Gericht bisher keine Bedeutung zugemessen. Deswegen artikulierten die Betroffenen auf dem Aktionstag vor dem Gericht die Erfahrung von rassistischer Schikane und Drangsalierung. Sie machten auf die Verwicklung von Geheimdiensten und Neonazi-Strukturen sowie die Bedeutung von institutionellem Rassismus aufmerksam. Die Betroffenen erläuterten, dass sie nicht nur von Neonazis angegriffen, sondern auch von Behörden und Teilen der Öffentlichkeit als Problem angesehen und entsprechend attackiert wurden – teilweise bis heute. Der Aktionstag war in diesem Sinne ein voller Erfolg, weil die öffentliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme für die leidvollen Erfahrungen der Opfer der Nagelbombe sehr hoch war. Endlich konnten die Betroffenen ihre Geschichte ungestört einer medialen Öffentlichkeit berichten, ohne unterbrochen und gemaßregelt zu werden. Es wurde deutlich, dass die Betroffenen ExpertInnen in der Einschätzung rassistischer Verhältnisse sind, und ihre jahrzehntelangen Erfahrungen Hinweise zur Aufklärung des NSU-Komplexes liefern können.
Reaktion auf das Ausbrechen aus der zugewiesenen Opferrolle
Noch während des Aktionstages und in den Tagen danach verschärfte sich allerdings der Ton des Gerichts. Viele ZeugInnen fühlten sich vom Gericht mit seinem Vorsitzenden Richter Götzl wie Angeklagte behandelt. Unwirsch versuchte er sie in Widersprüche zu verwickeln und ließ jegliche Form eines sensiblen Umgangs mit diesen zum Teil noch stark traumatisierten Menschen missen. Die ZeugInnen aus Köln, die gleichzeitig auch als NebenklägerInnen auftreten, wurden mitunter wie Verdächtige behandelt. Diesen Umgang verstehen wir als eine Reaktion auf das Ausbrechen dieser Menschen aus der ihnen zugewiesenen Rolle.
Zwei Artikel auf Spiegel Online vom 22.1. und 28.1.2015 und andere Medienberichte gingen einen Schritt weiter und kehrten in eingeübter Manier Opfer in Täter um. Erneut wurden die migrantischen Betroffenen unglaubwürdig gemacht und auf einen gesellschaftlichen Platz verwiesen, an dem sie passiv und stumm verharren sollen. Statt auf das Unrecht einzugehen, das den Opfern des Nazi-Terrors zugefügt wurde, berichtete die Spiegel-Journalistin Gisela Friedrichsen von zerstrittenen Anwälten, erfundenen Opfergeschichten und unrechtmäßiger Beteiligung verschiedener NebenklägerInnen. Damit unterstützt Der Spiegel das Störfeuer der Verteidigung von Beate Zschäpe. Am Tag nach der Veröffentlichung beantragte die Verteidigung, NebenklägerInnen aus der Keupstraße und engagierte Anwälte vom Prozess auszuschließen. Die anklagenden Betroffenen sollen in die Defensive gedrängt werden.
(Foto: Delegierte des Aktionsbündnisses “NSU-Komplex auflösen”, Halitplatz, Kassel)
Rassisten nicht in die Karten spielen
Damit führten Der Spiegel und ihn flankierende Medien eine schlechte Tradition weiter, in der Opfer von Rassismus verdächtigt und verunglimpft werden, wie es auch in der Keupstraße in den Jahren 2004 bis 2011 geschah. Statt endlich das ausgedehnte Netzwerk des NSU zu recherchieren, das sich gerade in dem Anschlag in der Kölner Keupstraße andeutet und das bis heute im Verborgenen gehalten wird, greift Der Spiegel mit Falschdarstellungen voller Ressentiments erneut die Opfer an. Er bedient weiterhin das Bild der „gefährlich Fremden“ und damit den Diskurs der Straßenrassisten von Pegida und Co. Dieses Vorgehen erfordert eine entschiedene gesellschaftliche Antwort.