Wir blicken zurück auf die 14. Sitzung des 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex am 23.06.2023. Zum ersten Mal wurden Vertreter der Sicherheitsbehörden angehört. In öffentlicher Sitzung wurde der frühere Staatsschützer und Leiter der Bao-Fokus Andreas Majewski zur Anschlagsserie in Neukölln angehört. Und angehört wurde auch Kristian Grüning, ebenfalls Staatsschützer und Leiter der Geschäftsstelle der Sonderkommission bestehend aus Diemer und Leichsenring. Die EG-Resin (eingesetzt ab 2017) ging ab 2019 personell auf in der BAO-Fokus. Und die BAO-Fokus wurde 2020 aufgelöst und stattdessen wurde die Sonderkommission vom damaligen Innensenator Geisel eingesetzt. Was im nichtöffentlichen Teil besprochen wurde, wird der Öffentlichkeit vorenthalten.
Am 1. September 2023 geht es weiter mit der 15. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex.
Déjà-vu
Andreas Majewski sagte in seiner Zeugenaussage vor dem PUA am 23.6.2023, dass die personellen Überschneidungen von EG-Resin und BAO-Fokus ein Problem darstellten, da der Staatsschutz quasi gegen sich selbst ermittelte. Für die mangelhaften Ermittlungen machte Andreas Majewski in seiner Zeugenaussage am 23.6.2023 verantwortlich: Ressourcengründe.
Zu wenig Personal, zu wenig Zeit, um den gesamten Zeitraum der rechtsextremistischen Straftatenserie zu untersuchen, stattdessen Festlegung des Untersuchungszeitraums der BAO-Fokus ab 2016. Wissensverlust durch Fluktuation, Ermittlungspannen. Ermittler hätten nicht über das nötige Hintergrundwissen verfügt und zum Teil auch die „Casa“, das computergestützte Fallbearbeitungssystem der Polizei, nicht bedienen können. Folglich hätten die Daten im Fall des Brandanschlags auf Ferhat Koçak und seine Familie nicht in „Casa“ eingespeist werden können und somit hätten die Beamten trotz Observation der Tatverdächtigen Ferhat Koçak nicht warnen können. Diese Art der Schutzbehauptungen für eigene mangelnde Ermittlungsergebnisse ist bekannt aus Ermittlungen zum NSU-Komplex, NSU 2.0, den “Einzelfällen“ rechten Terrors wie in Hanau oder München.
Außerdem sei die Polizeiarbeit laut Andreas Majewski durch den immensen Erwartungsdruck aus dem politischen und medialen Raum beeinträchtigt. Sie könnte daher nicht genug Erkenntnisse liefern. (Argumentiert wird oftmals: Die Erwartungen der Öffentlichkeit und vor allem der Angehörigen und Betroffenen seien (vielleicht) nachvollziehbar, aber unrealistisch.)
Da dieses Argument immer wieder auftaucht in den öffentlichen Diskursen, merken wir an dieser Stelle an: Wenn also die Angehörigen und Betroffenen der Brandanschlagsserie in Neukölln sich für Aufklärung und Gerechtigkeit einsetzen, wird dies von der Polizei als „Druck“, als eine unzulässige Anmaßung, die den Angehörigen, Betroffenen und der Öffentlichkeit nicht zusteht, aufgefasst, anstatt dies empathisch als eine Selbstverständlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft zu sehen.
Intransparenz PUA Neukölln-Komplex
Angehört wurde auch Kristian Grüning. „Grüning war Büroleiter der Geschäftsstelle der sogenannten Sonderkommission: Der frühere Generalbundesanwalt Herbert Diemer und die frühere Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, hatten von Geisel 2020 den Auftrag bekommen, den offenen Fragen im Ermittlungskomplex um die Anschlagsserie nachzugehen.“ Auch die Expertenkommission sollte mögliche Ermittlungspannen in der Anschlagsserie untersuchen. Die Sonderkommission wurde als unabhängig und weisungsfrei gepriesen. Grüning beschrieb seine Aufgabe als Büroleiter so: Er habe die Akten besorgt, Diemer und Leichsenring zum Teil bei Terminen begleitet und auch an deren Abschlussbericht durch Zulieferung von „Textbausteinen“ mitgewirkt.
Durch Nachfragen des Innenpolitikers der Linken, Niklas Schrader, stellte sich heraus, dass Grüning seinerzeit gleichzeitig die Kontrollstelle für den Verfassungsschutz in der Innenverwaltung geleitet und damit direkt beim damaligen Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) angesiedelt war.
Grüning, Kriminaldirektor, arbeitete also in der Senatsinnenverwaltung als Leiter der sogenannten Arbeitsgruppe Kontrolle Verfassungsschutz. Diese Funktion behielt er auch während der Tätigkeit der Expertenkommission. Grüning war als Geschäftsstellenleiter der verlängerte Arm von Innenstaatssekretär Akmann. Und Grüning war als Staatschützer für die Steuerung der Ermittlungsergebnisse mitverantwortlich.
Fazit:
- Die Zeugenaussagen vom 23.6.2023 weisen auf eine problematische Rolle von Staatsschutz, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft hin. Die offengelegten Verwicklungen und Interessenkonflikte und das aus ihnen resultierende systemimmanente Versagen von Aufklärung müssen im Untersuchungsausschuss offengelegt und die Auswirkungen all dessen analysiert werden.
- Personelle Überschneidungen bei Ermittelnden und Sonderkommissionen wie im Fall der EG Resin, die mehr oder weniger geschlossen in die Bao Fokus übergeht, tragen dazu bei, dass Wissen konserviert wird – nach der Devise „Dichthalten“. Wie kam es zu dieser Entscheidung und mit welcher Begründung? Diese Vorgänge müssten aktenkundig sein und dem PUA zur Verfügung gestellt werden, soweit dies noch nicht geschehen ist.
- Die Verantwortlichen für die Personalbesetzung von EG-Resin, BAO-Fokus und Sonderkommission müssen beim PUA angehört werden. Hierzu müsste zum Beispiel der ehemalige Innensenator Geisel angehört werden. Die entsprechenden Akten sollten dem Untersuchungsausschuss vorliegen und Aufschluss geben über die Entscheidungsprozesse.
- Andreas Majewski kritisierte die Staatsanwaltschaft: Diese habe auf polizeiliche Anregungen für Observationsmaßnahmen teils erst Monate später reagiert und Straftaten erst spät im Gesamtkontext bewertet. Dem muss im PUA nachgegangen werden. Kritik an der Staatsanwaltschaft ist von mehreren Seiten zu hören. Die verantwortlichen Staatsanwälte müssten angehört werden, sodass es möglich wird, sich ein Bild zu verschaffen.
- Die personelle Ausstattung sowohl der BAO-Fokus als auch der EG Resin sei viel zu gering gewesen, sagte Majewski weiter. Diese Argumentation der Polizeibehörden ist für uns nicht nachvollziehbar. Wann wäre genug Personal vorhanden? Wurde wegen Personalmangel entschieden, den Untersuchungszeitraum der BAO-Fokus ab 2016 zu begrenzen? Oder weshalb? Welche Unterlagen liegen hierfür vor? Oder ist dies einfach nur die übliche Rhetorik im Zusammenhang von „Wir brauchen mehr Polizei“, „bessere Ausstattung“ o.ä. …? Eine Kontextualisierung muss durchgehend gewährleistet werden über einen Untersuchungszeitraum von 2007 bis heute.
- Die häufig angeführte Behauptung der Behörden für „Untätigkeit“, es gäbe ein „Kommunikationsproblem“, ist nichtssagend. Vielmehr ist dies ein strukturelles Problem, die Frage ist: Was darf kommuniziert werden und was nicht. Diese von Majewski benannte gestörte Kommunikation innerhalb der Behörden ist mit Sicherheit aktenkundig und gehört als Gegenstand mit in den PUA.
- Immer wieder sind Aussagen von Vertreter:innen der Sicherheitsbehörden unglaubwürdig. Dass Majewski beispielsweise auf das Nazi-Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“ durch eine Abgeordnete der Linken aufmerksam wurde, wirft kein gutes Licht auf die Sicherheitsbehörden. Würde Majewski dies auch unter Eid aussagen?!
- Es ist für uns nicht nachvollziehbar und nicht zu rechtfertigen, dass der Fokus der Ermittlungszeiträume versucht wird auf den Zeitraum der Bao-Fokus ab 2016 zu begrenzen. Die Brandanschlagsserien und Drohbriefe reichen mindestens bis 2009 zurück. Somit werden die Kontinuität und die Vernetzung der Nazistrukturen in Neukölln und bundesweit ausgeblendet.
- Bei dieser zeitlichen Einschränkung sind weder der Mord an Burak Bektaş am 5. April 2012 noch der Mord an Luke Holland am 20.September 2015 Gegenstand der von den Untersuchungskommissionen behandelten Untersuchungszeiträume.
Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss wurde mit der Zusage eingesetzt, dass die beiden Mordfälle in Berlin Neukölln Gegenstand des PUA sind.
Wir erwarten, dass die Untersuchungen zu den Morden an Burak und Luke im Untersuchungsausschuss angegangen werden.
Das Gesamtbild des PUA ist in Bezug auf Polizei-, Sicherheits- und Justizbehörden ein Déjà-vu von “dicht-halten“ und “auf-Linie-bringen“, wie bei den Anhörungen beim Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex am 23. Juni 2023 deutlich wurde.
Es zeigt sich, wie wichtig ein Parlamentarischer Untersuchungsausschusses ist und welche Chancen für strukturelle Veränderungen möglich sind.
Am 1. September 2023 werden Christian Steiof, Leiter des Landeskriminalamts und E., Leiter der EG ReSiN ab 9 Uhr beim Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Neukölln-Kompex“ gehört.
Vorher wird es ab 8 Uhr eine Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin geben, kommt vorbei.
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