Erinnern heißt kämpfen! Antirassistische Demonstration anlässlich des 10. Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU

04.11.2021 – 18 Uhr // Oranienplatz – Berlin-Kreuzberg
Erinnern heißt kämpfen – antirassistische Demonstration anlässlich des 10. Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU Vor 10 Jahren, am 04.11.2011, wurde das Kern Trio des NSU der Öffentlichkeit bekannt. Seit nunmehr 10 Jahren haben wir die Gewissheit, dass Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat dem mörderischen Rassismus des NSU zum Opfer fielen. Auch die Polizistin Michèle Kiesewetter wurde durch die Rechtsterrorist*innen getötet.
Ein breites Netzwerk an Unterstützer*innen hat die Morde des NSU möglich gemacht, dessen Mitglieder bis heute weitestgehend unbehelligt agieren können.
Auch wenn nach dem Ende des Prozesses 2018 und der jüngsten Bestätigung der Urteile durch den Bundesgerichtshof die juristische Aufarbeitung des NSU-Komplexes als abgeschlossen erklärt wird, ist klar: Von einer „lückenlosen Aufklärung“ des NSU-Komplexes sind wir noch immer weit entfernt. „Sie haben fünf Jahre fleißig wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig erzeugt“, klagte Ayşe Yozgat zum Urteil im NSU-Prozess. Die Angehörigen der Opfer verlangen weiterhin Aufklärung.

„9 Opfer – Wir wollen kein 10. Opfer. Stoppt die Mörder“
Während bereits im Sommer 2006 Angehörige der Familien Yozgat, Şimşek und Kubaşık und migrantische Communities auf Großdemonstrationen in Kassel und Dortmund auf die Gefahr weiterer Opfer rechten Terrors aufmerksam machten, konzentrierten sich Ermittlungs-und Sicherheitsbehörden darauf, eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben und die Angehörigen und Überlebenden zu drangsalieren. „Wir durften nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein” sagte Semya Şimşek mit Blick auf die Verdächtigungen gegenüber ihrer Familie nach dem Mord an ihrem Vater Enver Şimşek. Staat und Nazis Hand in Hand – durch das jahrelange Verleugnen, Verharmlosen und Unterstützen rechter Strukturen konnte der NSU entstehen und unbehelligt agieren. Noch immer steht die Politik für V-Personen-Schutz statt für Aufklärung.
In einer Gesellschaft, die auf strukturellem Rassismus basiert, fällt solch perfides Vorgehen, wie im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex, auf fruchtbaren Boden – ein Zusammenwirken von Staat, Politik, Ermittlungsbehörden bis zu breiten Teilen der Medien und der Zivilgesellschaft. Auch linke Strukturen haben lange weggeschaut und die Hinweise auf ein rechtes Terrornetzwerk ignoriert. Die Morde des NSU und der Anschlag in der Keupstrasse in Köln mit vielen Verletzten waren ein Anschlag gegen migrantisches Leben. Ein Anschlag gegen uns alle, gegen alle, die für Diversität und ein gleichberechtigtes und solidarisches Miteinander stehen.

Wir fordern: Kein Schlussstrich

Doch auch nach all diesen eindringlichen Versuchen, die Gefahren des Rassismus und Rechtsterrorismus sichtbarer zu machen, folgten viele weitere Opfer rechtsterroristischer Anschläge. Der Anschlag auf das OEZ in München 2016, der Mord in Kassel 2019, Halle 2019, Hanau 2020 sind nur einige Beispiele. Das Oktoberfestattentat, der antisemitische Doppelmord in Erlangen, die Brandanschläge in der Hamburger Halskestraße, Mölln, Solingen und Lübeck, die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau, Hoyerswerda – diese rechtsterroristischen Anschläge und Pogrome aus den 1980er und 1990er Jahren sind Teil der langen Geschichte rechten Terrors in Deutschland und seiner verdrängten Kontinuität. Immer wieder wird von rechten Einzeltäter*innen gesprochen, doch Rassismus, Antisemitismus und rechter Terror haben in Deutschland System.

Wir wollen keine weiteren Opfer
Die Liste ließe sich erweitern um den NSU 2.0, die Gruppe Freital oder die fast täglichen neuen Meldungen über das Auffliegen rechtsterroristischer Gruppen und Strukturen in Polizei und Militär. Die Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland zeigen sich auch im anhaltenden Zusammenspiel der „Sicherheitsbehörden“ mit rechten Netzwerken. „Ihr seid keine Sicherheit!“ Dabei kommen immer wieder Täter*innen und ihre Verbündeten straffrei davon, während Opfer und ihre Angehörigen die Konsequenzen tragen müssen. Deutschland betreibt Täterschutz. Statt rechte Strukturen zu enttarnen, wird relativiert, vertuscht und reihenweise von Einzelfällen gesprochen. Opferfamilien und Unterstützer*innen kämpfen gemeinsam, vernetzt gegen rassistische institutionalisierte Strukturen in Staat und Gesellschaft – für Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen.

Wir fordern: Enttarnung rechter Netzwerke. Es darf keinen Schutzraum für Nazis geben.
Wie lange wird es noch dauern, bis ein erneuter Fall von Rechtsterrorismus ans Licht kommt?
Ein würdiges Gedenken an die zahlreichen Opfer rechten Terrors muss diese Kontinuitäten von rechtem Terror und Gewalt in den Blick nehmen und Konsequenzen daraus ziehen. „Lückenlose Aufklärung“ ist in Deutschland von den Behörden nicht zu erwarten. Es liegt an uns, die verschiedenen Kämpfe zusammen zu kämpfen. Wir fordern, dass Angehörige und von Rassismus betroffene Menschen endlich als „Hauptzeug*innen des Geschehens“ ernstgenommen werden. Rassistische und rechte Morde und Gewalt sind keine Bagatelldelikte. Wir fordern die Umsetzung der Empfehlungen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse als Konsequenzen aus dem NSU.

Erinnern heißt kämpfen

Wir wollen den Opfern des NSU und aller anderen Opfern rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt erinnern und unsere Solidarität mit den Betroffenen und Angehörigen zum Ausdruck bringen. Wir wollen an die Opfer erinnern und weiter gegen rechtsterroristische Netzwerke und rassistische, antisemitische und andere gewaltvolle Strukturen kämpfen. Wir können nicht die Namen aller Opfer nennen – zuviele mussten ihr Leben lassen – aber wir wollen deutlich sagen:

Niemand ist vergessen!
Kein Schlussstrich!
Gestern, heute, morgen. Den Opfern rechten Terrors gedenken. Den rassistischen Normalzustand bekämpfen.

Oktoberfestattentat 1980:
Gabriele Deutsch, Robert Gmeinwieser, Axel Hirsch, Markus Hölzl, Paul Lux, Franz Schiele, Ignaz Platzer, Angela Schüttrigkeit, Errol Vere-Hodges, Ernst Vestner, Beate Werner

Erlangen 1980:
Frida Poeschke, Shlomo Lewin

Hamburg 1980:
Ngoc Chau Nguyên und Anh Lân Dô

Hamburg 1985
Ramazan Avcı

Mölln 1992:
Yeliz Arslan, Bahide Arslan und Ayşe Yılmaz

Solingen 1993:
Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç, Saime Genç

Lübeck 1996:
Monica Maiamba Bunga, Nsuzana Bunga, Rabia El Omari, Francoise Makodila Landu, Christelle Makodila Nsimba, Legrand Makodila Mbongo, Christine Makodila, Miya Makodila, Jean-Daniel Makodila Nkosi, Sylvio Bruno Comlan Amoussou

Berlin 2000:
Dieter Eich

NSU 2000-2007:
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter

Dessau 2005:
Oury Jalloh

Berlin 2012:
Burak Bektaş

Berlin 2015:
Luke Holland

München 2016:
Selçuk Kılıç, Janos Roberto Rafael, Can Leyla, Hüseyin Dayıcık, Sevda Dağ, Giuliano Josef Kollmann, Sabina Sulaj , Armela Segashi, Dijamant Zabërgja

Kleve 2018:
Amed Ahmad

Kassel 2019:
Walter Lübcke

Halle 2019:
Jana Lange, Kevin Schwarze

Hanau 2020:
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov

und allen weiteren Opfer rechter Gewalt.