Bei der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin nach den Wahlen am 16.03.2023 soll der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex wieder eingesetzt werden.
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10. Sitzung am 6.1.23 mit
Zeugin Uta Leichsenring
Polizeipräsident in Eberswalde 1990-2002
Zeuge Dr. Herbert Diemer
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof 2004-2019; von 2011-2018 war er bei den Ermittlungen, Anklageerhebung und Vertretung der Anklage vor dem Oberlandesgericht München in Sachen NSU tätig.
Beide sind vom Innensenator Geisel für die Kommission zur Aufarbeitung der rechtsextremistischen Anschlagsserie in Neukölln ernannt worden. Die Einsetzung der Kommission wurde Ende September 2020 vom Senat beschlossen. Die Kommission sollte herausarbeiten, ob und welche Versäumnisse im Ermittlungskomplex Neukölln erkannt worden sind, zu welchen Auswirkungen dies geführt hat und welche Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten sind.
11. Sitzung am 20.1.23 mit
Zeuge Roland Weber
Opferbeauftragter des Landes Berlin im Ehrenamt seit Oktober 2012; die Ernennung durch Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, um den Opferschutz in Berlin nachhaltig zu stärken, Opfern von Straftaten effektiver Unterstützung anzubieten, Belangen der Opfer mehr politisches Gewicht zu verleihen.
Des weiteren Fachanwalt für Strafrecht, in seiner Kanzlei spezialisiert auf die Durchsetzung der Rechte von Verletzten und Hinterbliebenen.
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Zum 6.1.2023: Leichsenring und Diemer werden zusammen befragt
Beachtlich oder unglaublich
Während Diemer und Leichsenring in ihrer Rolle als Sonderermittler*innen alle Akten digital zur Verfügung gestellt wurden, Zugang zu dem Polizei-internen Programm Polis hatten und auch vom Verfassungsschutz mit sämtlichem Rohmaterial versorgt worden sind, schlägt sich der parlamentarische Untersuchungsausschuss von Sitzung zu Sitzung ohne Akten durch. Wie ist das zu bewerten? Die beiden Ermittler*innen erhalten Vertrauen von den Behörden, sind „Interne“ und stellen keine kritischen Fragen bzw. Überprüfungen an?
Natürlich konnten sie nicht alle Akten lesen. Vom Rohmaterial („des Nachrichtendienstes“) haben sie ganze 1,1% geschafft. Aber der Polizei wird bescheinigt, jeden Stein umgedreht zu haben, so bescheinige es die Aktenlage, soweit sie dass einsehen konnten in dem kurzen Zeitraum.
Aufgaben oder Aufgabenverständnis
Die Sonderermittler*innen sind vom Innensenator eingesetzt worden, da in der Öffentlichkeit immer mehr kritische Stimmen laut wurden, dass es keine Ermittlungserfolge im Neukölln-Komplex gab. Es sollte die Brisanz genommen werden, wie die Sonderermittler*innen erzählen; Ergebnisse erzielen dagegen sollten sie offenbar nicht, zumindest erwähnten dies die beiden Sonderermittler*innen nicht.
Um Vertrauen herzustellen, ist Frau Leichsenring zunächst zu den Betroffenen gegangen um … ja was? Händchen zu halten? Sie wollte nach den Befindlichkeiten der Betroffenen fragen. Ist das ihre Aufgabe? Das war nicht die Erwartung der Betroffenen. Jedenfalls hat sie die Gespräche nicht protokolliert. Die konkreten Forderungen und Beobachtungen, die die Betroffenen an die Sonderermittler*innen hatten, die Beobachtungen, die sie schilderten, waren irrelevant, nicht Teil ihrer Aufgabe bzw. ihres Aufgabenverständnis. Und die Erwartungshaltung, dass die Täter*innen überführt werden, sei verständlich, „aber alle Wünsche gingen halt nicht in Erfüllung…“.
Dagegen hätten Diemer und Leichsenring exemplarisch die Aktenführung der Polizei auf Fehler überprüft, ob sie Fehler in den Ermittlungen finden konnten. Fehler bei Aktenführung hätten sie nicht finden können. Tenor: gute Aktenführung, 0% Aufklärung.
An kritischen Untertönen blieb, dass es seit 2015 allen bekannt gewesen sei, dass es sich in Neukölln um eine Serie gehandelt habe und dementsprechend die Ermittlungen gebündelt hätten werden sollen. Wurden sie nicht. Aber die Polizei hat alles getan was sie konnte.
Betroffene
Die Betroffenen im Neukölln-Komplex, die im PUA als Zeug*innen ausgesagt haben, haben ihre Beobachtungen und Forderungen immer wieder weiter gegeben. Sie haben sich vernetzt und sind aktiv im Geschehen. Die Sonderermittler*innen dagegen wollen aber nicht ihre Erfahrungen und Erwartungen hören sondern lediglich mit ihnen sprechen, um Vertrauen zu gewinnen. Damit degradieren sie die Betroffenen zu Opfern mit „Befindlichkeiten“ (Zitat Leichsenring). Die Ermittler*innen hingegen sind „objektiv“. Hier wird schon ein „Missverhältnis“ deutlich, nämlich die einen, die Ermittlungen und Aufklärung wollen, die anderen (objektiven), die Vertrauen herstellen wollen. Hierfür reichen die Akten der Polizei aus, die Beobachtungen der Betroffenen spielen keine Rolle. Das brennende Auto z.B., von dem das Feuer auch auf das Haus hätte übergreifen können, in dem die Menschen schliefen, wird so zur Befindlichkeit, nicht zu einem Brandanschlag mit Tötungsabsicht.
Rechte Strukturen
Selbst Diemer musste zugeben, dass seit 2015 der Polizei bekannt ist, dass es sich beim Neukölln-Komplex um eine Serie handelt. Bei der Staatsanwaltschaft ist dem nicht gefolgt worden, „da sei sehr viel Luft nach ‚oben‘ gewesen“.
Kenntnisse von rechten Strukturen wurden nur auf Nachfrage der Abgeordneten des PUA zugegeben. Dass z.B. der Oberstaatsanwalt Fenner Timo Paulenz zu erkennen gegeben hat, Nähe zur AFD zu haben. Von sich aus sind die Sonderermittler*innen nicht auf rechte Strukturen, Chatgruppen etc. zu sprechen gekommen. Da blieb immer nur ein vages „keine Ahnung“, „Aussagen über gelöschte Chats der Polizei sind Spekulationen, gehen nicht“…; insgesamt hat Diemer das Öffentlichmachen von rechten Strukturen als Problem gesehen, nicht das Vorhandensein rechter Strukturen bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft.
Exemplarisch hätten sie sich an dem Vorwurf, dass sich ein LKA-Beamter mit Sebastian Thom im Ostburger Eck getroffen habe, abgearbeitet, um diesen zu entkräften. Mit sichtlicher Freude konnte er vermeintlich nachweisen, dass Thom nicht in das Auto des LKA-Beamten gestiegen sei, sondern ein anderer. Naja, oder so. Aber getroffen schon…, ist ja ok…
Dass das Ostburger Eck eine bekannte rechtsoffene Kneipe sei, konnte Diemer nicht bestätigen. Ihm wurde gesagt, dass diese eine Fankneipe sei; das könne er nicht überprüfen.
Problematisch ist insgesamt die Haltung der beiden Sonderermittler*innen, dass sie allzu gerne mit und über Betroffene reden, nicht aber über die rechten Strukturen des Neukölln-Komplex. Und die Bewertung eines Polizisten, der den Diebstahl eines Stolpersteins als geringfügiges Delikt begreift, als mangelnde „Sensibilität“ abzutun, ist ignorant, gefährlich, bagatellisiert Antisemitismus und unterstützt die Täterstrukturen. Aber: Sie hätten „aus dem NSU-Komplex gelernt“…(zu dieser Aussage von Diemer gab es leider keine Nachfrage von Seiten der Abgeordneten).
Kritik
„Wir haben aus dem NSU gelernt“? Aber was? Die Opfer von rassistischer, antisemitischer und faschistischer Gewalt ernst nehmen, sie als Expert*innen sehen? Selbst der Name von Burak Bektaş war nicht mehr präsent, das Jahr des Mordes ebenso wenig, obwohl sie sich angeblich „zusätzlich“ die Akte angesehen haben. Bei 2 Morden im Neukölln-Komplex (5.4.2012 Burak Bektaş und 20.09.2015 Luke Holland). Ihr Untersuchungsauftrag ging nur von 2014 bis 2020; „vor 2014 sei sowieso nichts passiert!“ erfuhren wir.
Wieso sind Polizist*innen, die das Entfernen von Stolpersteinen als geringfügiges Delikt behandeln „unsensibel“, wieso ist das Bekannt-werden von rechten Chatgruppen in der Polizei ein Problem oder das Bekannt-werden von rechten Sympathien eines Staatsanwalts?
Während die Betroffenen fundierte Beobachtungen und Hinweise geben und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) z.B. Schriften abgleicht von Morddrohungen an Hauswänden, um den Täterkreis einzuschränken, wollen Diemer und Leichsenring lediglich Vertrauen schaffen.
„Wir haben aus dem NSU gelernt“. Ein Satz, der in der Luft hängen bleibt, ohne konkreten Zusammenhang und Konsequenz. Er wird auch durch ständige Wiederholung nicht wahr.
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Zum 20.2.23: Weber
Ein Tag im PUA, der sehr gut zu der Befragung von Diemer und Leichsenring am 6. Januar 2023 passte war die Befragung des Opferbeauftragten Weber am 20. Januar 2023.
Weber hat, so sagte er selbst, keine Ahnung vom Neukölln-Komplex, keine*r der Betroffenen sei auf ihn zugekommen. Daher sprach er über seine Arbeit an sich, trennt aber während der gesamten Befragung die beiden Tätigkeiten als Anwalt und Opferbeauftragte wenig bis gar nicht. Er fragt die Menschen, die zu ihm kommen auch nicht, in welcher Funktion sie ihn sprechen wollen, das „gehe ja schlecht“…
Richtig genervt hat aber, dass er mit keinem Wort auf den Neukölln-Komplex mit den rechten Strukturen, mangelnden Ermittlungen und Aufklärung einging. Sämtliche Sensibilität gingen ihm hier offenbar? verloren, die er ja bei anderen Berufsgruppen so vermisst.
Konkrete Forderungen aus seiner Tätigkeit: Abschiebeschutz für Opfer von Straftaten während Ermittlungen und Prozess, Erweiterung des Katalogs für die PKS (politische Kriminalitätsstatistik) um Sachbeschädigungen, Anerkennung von Hinterbliebenen als Opfer. Ansonsten stellte er sich als Mittler und Lotse zwischen Öffentlichkeit und Politik dar, da er im ähnlichen Bereich auch als Jurist arbeite.
Dieser Opferschutzbeauftragte ist überflüssig und die Befragung durch den Ausschuss war es auch, da er nichts zum Thema beizutragen hatte. Es sei denn, die Empfehlungen des Ausschusses schließen die Abschaffung der Einrichtung „Opferschutzbeauftragte“ als eine Konsequenz ein. Die Beratungsprojekte für Opfer jedenfalls brauchen diesen „Mittler“ nicht (siehe https://www.hilfe-in-berlin.de).
In der „Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses im Land Berlin“ vom 28.08.2015 vom Abgeordnetenhaus Berlin für die Berliner Polizei werden bereits konkrete Maßnahmen für die Zusammenarbeit mit Opferschutzorganisationen empfohlen. Wenn aber das Entfernen eines Stolpersteins nicht in den Kontexts von Antisemitismus gestellt wird, bei der Ermordung eines migrantischen Menschen keine rassistische Tat mitgedacht wird, dann sind Empfehlungen und jegliche Handlungsanweisungen sinnlos.
Weder Diemer noch Leichsenring oder Weber erwähnten den Mord an Luke Holland am 20.09.2015 in ihren Aussagen. Der Mord an Luke Holland ist einer der wenigen Taten im Neukölln-Komplex, bei dem ein Täter festgestellt wurde und es einen Prozess mit Verurteilung gab. Luke wurde von dem Nazi Rolf Zielezinski ermordet; die Wohnung des Mörders war voller NS-Devotionalien, er war bekannt für seine Sympathien für die NPD und trotzdem wollte das Gericht kein politisches Tatmotiv erkennen. Was muß ein Nazi noch tun, um von der deutschen Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz als solcher erkannt zu werden?
Und was uns hier irritierte war, dass Weber seine Mitwirkung als Rechtsbeistand im Neukölln-Komplex verschwieg. Als wir in unsere Protokolle zum Prozess zur Ermordung von Luke Holland schauten und feststellten das Weber am 04.04.2016, die Lebensgefährtin des Mörder Rolf Zielezinski als Rechtsbeistand vor Gericht begleitete. Möglich, dass er das nicht in seiner Funktion als Beauftragter getan hat, sondern eben nur als Anwalt. Die Prozessbeobachter*innen jedenfalls hatte es irritiert, dass die Zeugin in Begleitung eines Opferschutzbeauftragten auftrat. Das Opfer war Luke Holland und seine Familie.
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Zum Schluss oder Kafkaesk
Ein politisches Tatmotiv kann nur erkannt werden, wenn es erkannt werden soll. Wenn eine Morddrohung „9 Millimeter“ für Person X aber nur eine „Schmiererei“ darstellt, können, wollen und sollen auch keine zielführenden Ermittlungen abgeleitet werden.
Die Betroffenen von rassistischer, antisemitischer und faschistischer Gewalt scheinen in Berlin mit immer neuen Einheiten der Polizei, immer neuen Ausschüssen der Politik hingehalten worden zu sein: Resin, IG Rex, EG Rex, Untersuchungen wie BAO Fokus, Sonderermittler*innen, ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss.
Sie werden von einer angeblich zuständigen Stelle zur nächsten verwiesen und werden nach Befindlichkeiten gefragt, sollen sich an Runden Tischen treffen, gemeinsam Kaffee trinken. Es wird Verständnis für die Betroffenen der Neuköllner Anschlagsserie geheuchelt, gleichzeitig ihre Wahrnehmungen in Frage gestellt und ihre Erwartungen lächerlich gemacht. Die Berliner Politik, Staatsanwaltschaft und Polizei scheinen lieber ein kafkaeskes Schloss errichten zu wollen, in dem sich die Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verlieren sollen, als gegen die bekannten rechten Gewalttäter*innen in Berlin Neukölln vorzugehen.