Philip Holland besucht PUA-Sitzung am 31. Mai 2024

Wir freuen uns sehr, dass wir Morgen gemeinsam mit Philip Holland, dem Vater von Luke Holland, die Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschus / PUA – Neukölln-Komplex besuchen können. Er ist aus Manchester angereist, um die Sitzung zum Mord an seinem Sohn zu verfolgen.

Was er von dem PUA erwartet, hat uns Philip Holland zu Lukes Geburtstag am 4. April 2024 geschrieben: link

Stellungnahme zur Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA-Neukölln-Komplex am 17. Mai.

Einladung zur nächsten PUA-Sitzung am 31. Mai 2024 und zur Veranstaltung „Die Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes – eine Zwischenbilanz“ am 4. Juni 2024 im HAU 2.

Am 31. Mai 2024 wird sich der Parlamentarische Untersuchungsausschuss mit dem Mord an Luke Holland beschäftigen. Befragt werden der Staatsanwalt von Hagen, der Anwalt von Lukes Eltern Onur Özata und der Polizist Rakel.

Luke Holland wurde am 20. September 2015 in Neukölln ermordet. Da es viele Ähnlichkeiten zwischen dem Mord an Luke und dem Mord an Burak Bektaş gab, sagte Luke Hollands Mutter Rita Holland: „Wäre beim Mord an Burak ordentlich ermittelt worden, hätte der Mord an Luke Holland möglicherweise verhindert werden können und Luke wäre noch am Leben.“
Brisant ist, dass der Name des Mörders von Luke Holland, Rolf Zielezinski, auch schon 2013 in der Akte zum Mord an Burak Bektaş auftaucht. Der Nazi Rolf Zielezinski war einem Hinweisgeber als Waffenbesitzer mit einem engen Bezug zum Tatort des Mordes an Burak Bektaş bekannt. Doch diesem Hinweis wurde nicht sorgfältig nachgegangen. Das hat der damalige Kommissar Hübner zugegeben, weil es ihm nachgewiesen wurde. „Das war nicht ausreichend ausermittelt“, bestätigte die Polizistin Marianne Emmert, die die Ermittlungen von Hübner 2020 übernommen hat, während ihrer Befragung in der letzten Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses.

Die Familien Holland und Bektaş gehen davon aus, dass ihre Söhne von demselben Täter Rolf Zielezinski ermordet wurden. Wir fordern, dass im Rahmen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses alles unternommen wird, um diese These auszuschließen oder zu belegen.

Rolf Zielezinski wurde für den Mord an Luke Holland verurteilt, allerdings ohne dass der Richter ein Motiv feststellte. Im Prozess kamen jedoch zahlreiche Belege für das rechte und rassistische Weltbild Zielezinskis zur Sprache. Der Mord wurde im Prozess entpolitisiert. War der Richter nicht fähig oder nicht willens ein rechtes Motiv zu erkennen?

Nun wollen wir einen Blick zurück auf die letzte Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses werfen. In der letzten Sitzung wurde die Polizistin Marianne Emmert befragt. An ihrer Seite hatte sie eine Anwältin, die sie mehrmals unterbrach und auf für bestimmte Themengebiete nicht vorliegende Aussagegenehmigungen hinwies.
Frau Emmert war zum Zeitpunkt des Mordes an Burak 2. Tatortbeamtin und Sachbearbeiterin im LKA 116 in der 6. Mordkommission. Am Morgen nach dem Mord hat sie zwei Zeugenvernehmungen und eine Hausermittlung durchgeführt und wurde in den Folgejahren punktuell zu den Ermittlungen hinzugezogen. 2020 wechselte der bis dahin die Mordermittlungen leitende Kommissar Hübner zum Staatsschutz. Mittlerweile ist er aus der Presse bekannt, weil er fast 400 Fälle rechtsextremer Straftaten unbearbeitet hat liegen lassen. Aktuell läuft deswegen ein Strafverfahren gegen ihn wegen Strafvereitelung.
Marianne Emmert wurde beauftragt, die Ermittlungen im Fall Burak zu übernehmen. Bis 2022 wurde Emmert ganz für diese Aufgabe freigestellt. Anfang 2022 ermittelte dann nochmal die gesamte Mordkommission zum Mordfall Burak.
Frau Emmert hat sich sehr zurückhaltend über ihren Vorgänger geäußert, aber was wir verstanden haben ist: Hübner hat schlechte Arbeit geleistet. Er hat unvollständig ermittelt, ist wichtigen Spuren nicht ausreichend nachgegangen, hat die Akte schlecht geführt und offenbar einen Wust an Dokumenten hinterlassen, in dem der Fortgang der Ermittlungen schwer nachzuvollziehen war und in dem nicht alle Beweismittel auffindbar waren.

Sinngemäß hat Kommissarin Emmert konkret Folgendes gesagt:
Nachdem sie die Ermittlungen übernommen hat, war es ihr wichtig, den Ermittlungsstand zu erfassen. Neben der Akte, die auch die Anwält*innen von Familie Bektaş einsehen konnten, gab es viele weitere Ablageorte, sowohl digital als auch physisch, was in diesem Ausmaß nicht üblich ist. So waren bspw. manche Berichte, die immer in die Akte gehören, im Original in einer internen Ablage abgelegt. Manche Beweismittel waren nicht mehr im Original auffindbar. Das betrifft etwa eine Videosequenz, die von einer Zeug*in aufgenommen worden war. In den Akten ist belegt, dass es diese Aufnahme gab, aber die Aufnahme ist nicht mehr auffindbar. Laut Emmerts eigener Aussage ist es Standard, dass alles, was zum Fall gehört, in die Akte kommt. Für die Arbeit der Anwält*innen der Familie Bektaş ist diese Akte die wichtigste Informationsquelle. Ist die Akte nicht vollständig, wird ihre Arbeit sozusagen torpediert.
Gefehlt habe in der Akte auch ein Bericht, der 2014 beim Staatschutz von der „AG Fiat“ verfasst worden war. Diese AG sollte Ermittlungsansätze mit Bezug auf „politisch motivierte Kriminalität rechts“ prüfen. Kommissarin Emmert habe dafür gesorgt, dass dieser Bericht Bestandteil der Akte ist als „Sonderbände Ermittlungskomplex IV“ und nicht mehr als geheim eingestuft ist. Wie hierbei durch Zufall herauskam, liegt dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss dieser Aktenteil jedoch überhaupt nicht vor. Wir fordern, dass dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss sofort alle fehlenden Aktenteile zur Verfügung gestellt werden. Wir akzeptieren keine weiteren Versuche der Vertuschung.
Jedenfalls hat die Einarbeitung in den Fall unter diesen Voraussetzungen viel Zeit beansprucht. Mit der Aktenführung Hübners war Emmert Zitat „nicht so zufrieden“, denn es habe sich nicht alles erschlossen und nicht alles sei nachvollziehbar gewesen. Ihr sei klar geworden, dass da noch viel aufgearbeitet werden müsse, dass da „Erfordernisse bestehen“ und, dass da noch mehr zu tun sei als bei Übergabe gedacht.
Erklärungsbedürftig blieb der Sachverhalt, dass zwischen Hübner und Emmert keine Übergabe stattgefunden hat. Sie habe nur einmal Kontakt aufgenommen wegen einer einzelnen Frage. Normalerweise sei aber eine intensive Übergabe die Regel. Dass Hübner in der Zwischenzeit in einer anderen Dienststelle tätig war, scheint hier als Begründung nicht ausreichend überzeugend, denn es könnte ja auch über Dienststellen hinweg eine Einarbeitung organisiert werden. Doch auch Emmert habe nicht versucht auf eine solche Einarbeitung durch Hübner hinzuwirken. War allen Beteiligten klar, dass Hübner schlecht arbeitet und keine Hilfe sein würde?
Was war der Hintergrund für diese ungewöhnliche Übergabe? Hübner hatte auch zuvor schon die Kommission gewechselt und den Fall Burak mitgenommen. Weshalb war es diesmal anders?
Jedenfalls hat sich Frau Emmert wohl weitgehend alleine ein Bild der Lage gemacht und nach Durchsicht aller Unterlagen einen neuen Ermittlungsplan erstellt.
Denn in den bisherigen Ermittlungen hatte sie Lücken festgestellt, die sie sich auf Grundlage der Akte nicht erklären konnte. Sie betont, dass sie nicht beurteilen könne, ob Ermittlungen tatsächlich nicht durchgeführt oder lediglich nicht dokumentiert wurden.
Dies betrifft zum Beispiel die Befragung der Anwohnenden in Tatortnähe. Hier waren 20 Personen nicht angetroffen und offenbar nicht befragt worden, sodass sie bspw. in diesen 20 Fällen Nachermittlungen anordnete.
Nachermittelt wurde auch zu einer Infoveranstaltung über Nazistrukturen in Süd-Neukölln am Bat Yam Platz in Gropiusstadt am 4.4.2012, am Abend vor dem Mord an Burak, bei der Nazis versuchten zu stören. Diese wurden auf eine mögliche Tatbeteiligung überprüft.
Weiterhin gab es in den Ermittlungen 2 Listen mit zu überprüfenden Personen aus dem rechtsextremen Spektrum mit Tatortbezug. Diese waren in der Akte zusammengeführt und um neun Personen gekürzt worden. Diese fehlenden neun Personen hat Emmert überprüfen lassen.
Auch im Fall Rolf Zielezinski, dem Mörder von Luke Holland, ließ sie nachermitteln. Sie sagt deutlich: „Das war nicht ausreichend ausermittelt“. Entsprechende Hinweise lagen vor. Sie haben deswegen Personen im Umfeld von Zielezinski befragt, um sich soweit noch möglich ein Bild von Zielezinskis Lebensumständen im Jahr der Tat 2012 zu machen. Das Umfeld Zielezinskis war für die Polizei zugänglich. Wie wären diese Ermittlungen verlaufen, wenn sie 10 Jahre früher durchgeführt worden wären? Frau Emmert sagt auf die Frage, ob sie Zielezinski aufgrund der Nachermittlungen als Täter ausschließen konnte, sie könne „nichts ausschließen“. Aber sie könne keinen Anfangsverdacht begründen. Auch aus allen weiteren Nachermittlungen hätten sich keine neuen Ermittlungsansätze ergeben.
In Bezug auf die Nachermittlungen bestätigt sie auch, dass man nach 10 Jahren nicht mehr damit rechnen kann, detaillierte Aussagen zu erhalten und Ermittlungsergebnisse zu erzielen. Einiges ist in diesem zeitlichen Abstand nicht mehr erfolgversprechend, z.B. die Frage, wo sich jemand zur Tatzeit befand. Nach so einem langen Zeitraum sei jede Überprüfung „schwierig“.

Fehlende Ermittlungen sah sie in zwei Fällen: Es gab drei Zeugen, die am Tatort waren, die bis heute unbekannt sind. Und es gab eine Aussage zu einem möglichen Doppelgänger. Ausführlicher äußerte sie sich im Rahmen des öffentlichen Teils der Sitzung hierzu jedoch nicht.
So viel zur Kritik an den Ermittlungen unter Hübner, die aus der Aussage Emmerts deutlich wurde.

Doch auch unter Emmert wurde an problematischen Grundannahmen festgehalten:

  • Die Grundannahme eines engen Tatortbezugs des Täters. Wir wissen u.a. durch den NSU-Komplex, dass Neonazi-Netzwerke mitnichten lokal begrenzt sind. Wenn kein Täter mit engem Tatortbezug zu ermitteln ist, wieso wird dann an dieser Grundannahme festgehalten?
  • Zwei Monate vor der Tat wurden rassistische Drohbriefe von Reichsbürgern versendet. Darin wurde angedroht u.a. Migrant*innen, so sie Deutschland nicht freiwillig verlassen, zu erschießen. Das Reichsbürgerspektrum wurde aber weder von Hübner noch von Emmert überprüft.
  • Aus dem NSU wurde nichts gelernt. Danach gefragt, ob in der Polizeiarbeit bestimmte Verfahrensweisen oder Standards eingehalten werden müssten, wenn ein Tathergang dem des NSU ähnele, antwortet Emmert, sie hätte keine festgelegten Standards zur Anwendung gebracht, ihr fielen da keine ein. Scheinbar benötigt die Polizei ein rechtsextremes Bekennerschreiben oder wenigstens ein hingesprühtes Hakenkreuz, um die Überprüfung eines rechten oder rassistischen Motivs als angeraten zu betrachten.

Wer so denkt, kommt dann auch zu anderen Schlussfolgerungen als wir bei der Frage warum nicht aufgeklärt wurde. Und die hören sich dann etwa so an: „Es gab kaum einzelne identifizierbare Merkmale, keine Äußerung, die eine Motivlage nahelegt, nur eine oberflächliche Beschreibung des Täters und so gut wie keine objektiven Spuren“. Es scheine „schier unmöglich einen Anfangsverdacht zu begründen“.

Wir fragen weiter: War das Motiv Rassismus?

Wir laden Euch ein zur nächsten Sitzung am 31. Mai um 9 Uhr, vorher findet ab 8:30 eine Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin statt.

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Außerdem möchten wir zur Veranstaltung am Dienstag den 4. Juni 2024 im HAU 2 (Hallesches Ufer 34, 10963 Berlin) um 19 Uhr einladen:

„Die Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes – eine Zwischenbilanz“
mit Helga Seyb, Ferat Koçak, Christiane Schott, Claudia von Gélieu und Karin Wüst.

Im Rahmen der Aktionswoche „Europa den Vielen“ von Die Vielen e.V. vom 3. bis 9. Juni

NSU-Watch-Protokoll zur PUA Neukölln-Komplex vom 12. April 2024

„Für die Familie ist es schwer erträglich, dass der der Fall nicht aufgeklärt wird.“ – 28. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex (12. April 2024) – nsu-watch.info/

Am 24. April veröffentlichte NSU-Watch eine Einschätzung zu dem Aussageverhalten von Polizeibeamten:
„Also wir waren alle toll“ – Die Aussagen von Polizeibeamt*innen im Neukölln-Untersuchungsausschuss – nsu-watch.info/

Statement zur 2. Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zum unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş – im Rahmen des PUA “Neukölln-Komplex”, am 26.4.2024

Zeugen

  • Helga Seyb: Opferberaterin bei ReachOut
  • Christian Schulz: Polizeibeamter, der die VICLAS-Anfragen und Teile der OFA’s (operative Fallanalysen) machte
  • Martin Knispel: Staatsanwalt, von Beginn an Stellvertreter von Dieter Horstmann, dem leitenden Staatsanwalt der Mordermittlung zu Burak Bektaş und löste diesen 2020 ab

Helga Seyb berichtete in ihrem Einleitungsstatement über 20 Jahre Erfahrung mit der Berliner Polizei als Beraterin für Opfer rechter/rassistischer Gewalt und deren Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt: Sie beschreibt die Weigerung der Polizei, Anzeigen aufzunehmen und rechte/rassistische Gewalt ernst zu nehmen und die immer wieder deutliche Haltung, diese als verständlich anzusehen und aus dem NSU nichts lernen zu wollen. Sie schildert, wie diese Einstellung der Polizei ursächlich dazu führt, dass rechte und rassistische Gewalt nicht aufgeklärt wird und, dass die im Vergleich zu anderen Städten große Anzahl von 27.000 Polizist:innen in Berlin dafür offensichtlich nicht hilfreich ist, sondern eher kontraproduktiv. So wird diese beispielsweise im Fall des Mordes an Burak Bektaş dafür genutzt, zu behaupten, es sei nicht möglich, herauszufinden, welcher Polizist dafür verantwortlich sein könnte, dass der Berliner Kurier Ende 2019 behauptete, die üble Nachrede über Burak stamme aus Polizeikreisen. Diese üble Nachrede verursachte neben dem nicht aufgeklärten Mord an Burak zusätzlichen Schmerz bei der Familie Bektaş. Ibrahim Arslan bezeichnete die polizeilichen Ermittlungen nach dem Brandanschlag in Mölln 1992, bei dem drei seiner Familienangehörigen starben, als Anschlag nach dem Anschlag. So dürfte es auch der Familie Bektaş gehen.
Für die Familie ist es unverständlich, warum sie so viel Kraft aufwenden müssen für Aufklärung, warum „eine Mauer gegen sie aufgebaut wird“. Die Familie hat ihren Sohn verloren und muss mit der Straflosigkeit und einem nicht ermittelten Täter leben. „Das ist keine Gerechtigkeit“, sagt Melek Bektaş.
(Das Statement von Helga Seyb: link / PDF-Dokument.)

Als zweiter Zeuge wurde der „Fallanalytiker“ Christian Schulz, tätig in der „Ermittlungseinheit Operative Fallanalyse“ (AE OFA), gehört. Absurder Weise konnte dabei im öffentlichen Teil der Zeugenanhörung nicht über konkrete Details bezüglich der Operativen Fallanalyse (OFA) zum Mord an Burak Bektaş gesprochen werden, für die Schulz verantwortlich war. Der Innensenat und der Justizsenat von Berlin haben sämtliche Akten zum Mord an Burak Bektaş und Luke Holland als NFD/Nur für den Dienstgebrauch eingestuft. Die Behörde, die für die Nicht-Aufklärung des Neukölln-Komplexes verantwortlich ist, entscheidet, was öffentlich und was nichtöffentlich verhandelt wird und der parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) folgt dem. Wir fordern die Mitglieder des PUA auf, sich konsequent dafür einzusetzen, dass die Einstufung als NFD zurückgenommen und die Inhalte des Ausschusses öffentlich verhandelt werden. Genauso müssen die Protokolle der Sitzungen veröffentlicht werden.

Schulz führte ca. 1,5 Jahre nach dem Mord an Burak eine ergänzende Fallanalyse zu den Mordermittlungen durch. Er behauptet, er habe als Fallanalytiker den Anspruch, im Team und frei von Druck die objektiven Daten herauszufiltern, um letztendlich eine Alternative zu bisherigen Ermittlungsansätzen bieten zu können. „Objektivität“ stellt er als zentral für den Ansatz bei der Arbeit einer AE OFA dar. Aber die Tatsache, dass ein weißer Mann auf fünf junge Männer mit Migrationsgeschichte schießt, stellt für ihn keine solche „objektive Sachlage“ dar. Das begründet er damit, dass im Umkehrschluss – so hätten das auch alle im Auswertungsteam gesehen – es ja nicht gesichert sei, dass der Täter nicht geschossen hätte, wenn die Opfer keine Migrationsgeschichte gehabt hätten. Ob sich hier die Fallanalytiker völlig in Spekulationen verrannt haben, wurde nicht gefragt.
Für Schulz stellt das Täterverhalten den unsichersten Faktor bei der Fallanalyse dar. Es sei immer bedürfnisgesteuert. Auf ein klares Motiv komme er in diesem Fall nicht, denn es gebe kein Täterverhalten außer „kommt – schießt – geht“. Gerade mit dieser von ihm mehrmals wiederholten Phrase belegt er unbeabsichtigt die Nähe des Mordes an Burak zu den Untaten des NSU. Aber eine Verbindung zu ähnlichen Taten – wie dem NSU – zu suchen, sei nicht seine Aufgabe gewesen. Dieses erstaunliche Vorgehen versucht er damit zu erklären, dass das Umfeld eines Verbrechens, hier die aktive Naziszene in Süd-Neukölln, gestohlene Stolpersteine, Reichsbürgerdrohbriefe etc., kurz der gesellschaftliche Kontext, in dem eine Tat stattfindet, die Analyse der Tat erschwere. Müssten der Mord an Burak und der Mordversuch an seinen Freunden nicht gerade in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umfeld und politischen Klima analysiert werden? Aber Schulz führt unbeirrt weiter aus: „Kontext ist subjektiv“! Das bedeutet: Das – objektiv – naheliegenste Motiv Rassismus spielt für diese OFA keine Rolle. Im Gegenteil versucht Schulz mittels seiner Darstellung des methodischen Vorgehens einer OFA ein solches Motiv zu negieren. Auch auf die Frage nach der bundesweiten Datenbank VICLAS behauptet er, rassistische und generell politische Delikte könnten dort nicht eingegeben werden. Das „Berliner Fallverarbeitungssystem“ habe ähnliche „Schwierigkeiten“, denn sie hätten sich ja nicht auf ein Motiv einigen können. Das alles klingt verworren! Was genau haben sie da gemacht und beabsichtigt?

Während Lukas Theune, der Anwalt der Familie Bektaş, bei der letzten Sitzung des PUA am 12. April 2024 darlegte, dass die Polizei viel zu wenig in Richtung Rassismus ermittelte, behauptet Schulz, die Mordkomission hätte nur zu einem rassistischen Motiv ermittelt. Desweiteren behauptet er, der Täter habe ja nur 2 von 5 Personen schwer und Burak tödlich verletzt. Wenn der Täter Burak und seine 4 Freunde hätte töten wollen, hätte er weiter geschossen. Wie haarsträubend diese Äußerungen eines Fallanalytikers sind, dürfte sich daran zeigen, dass der Mord an Burak mit einem Colt ausgeführt wurde. Dieser Revolver enthält 6 Patronen und die hat der Täter verschossen, wie hätte er da weiter schießen können?

Erschüttert stellen wir fest, dass Schulz mit der Darstellung seiner sogenannten Fallanalyse versucht, erst das Mordmotiv Rassismus, dann die Opfer – Burak und seine Freunde – und schließlich den Mord an Burak verschwinden zu lassen. War das der Weg, auf dem die Ermittlungen eingestellt werden sollten? War das der Zweck dieser Fallanalyse?

Als dritter Zeuge trat Staatsanwalt Martin Knispel auf.
Knispel hat Horstmann, den leitenden Staatsanwalt der Mordermittlung zu Burak Bektaş, wenn es notwendig war, vertreten. Für eine kurze Zeit sei er auch „federführend“ gewesen. Generell bestätigt Knispel mit seiner Darstellung Horstmanns Aussagen aus der letzten Sitzung. So behauptet auch er, und das ist wieder gelogen, er sei nicht „Herr des Verfahrens“ gewesen. Er ist dazu aber in seiner Funktion verpflichtet. Wir gehen mal davon aus, dass es sich hier um eine Schutzbehauptung handelt.
Als es um die Falschbeschuldigungen von Burak Bektaş durch den Berliner Kurier geht, erklärt er, er habe eigenmächtig entschieden, die Berliner Polizei von dem Vorwurf, falsche Informationen an den Berliner Kurier gegeben zu haben, frei zu sprechen. Denn die Presse behaupte ja gerne mal fälschlicherweise, sie hätten etwas „aus Polizeikreisen“. Und er begründet damit seine Weigerung, die von der Familie eingeforderte Ermittlung einzuleiten. Plötzlich ist er doch „Herr des Verfahrens“ und die Opferberaterin Helga Seyb (siehe oben) wird belogen. Die Kriminalisierung von Burak, das durch die Falschbeschuldigung negierte rassistische Mordmotiv und das zusätzliche Leid für die Familie wischt er mit der lapidaren Aussage weg, dass das ja nun nicht mehr revidiert werden könne. Damit hat er zum Teil leider recht. Das mit der Verleumdung geschürte rassistische Narrativ wird durch die Veröffentlichung im Berliner Kurier verbreitet und ist in der Welt und in den Köpfen.

Wenn es um die Anliegen der Angehörigen von Burak geht, scheinen beide zuständigen Staatsanwälte, Horstmann und Knispel, Aufklärung zu verhindern und damit ihre eigentliche Arbeit zu verweigern. Hierfür muß auch diesmal die Familie allein die Konsequenzen tragen. Die Täter, der Mörder und der Verleumder bleiben straffrei.

Die Schilderungen der Opferberaterin Helga Seyb – auch im Namen der Familie Bektaş und generell den Betroffenen – stehen in krassem Widerspruch zu den Aussagen der Zeugen der Ermittlungsbehörden, die wieder damit durchkamen, ihre Version viel zu ungestört darzulegen. Es bleiben jetzt, zumindet wie bisher anberaumt, nur noch zwei PUA Sitzungen zu den Morden an Burak Bektaş und Luke Holland. Angesichts so vieler ungeklärter Vorgänge stellt sich erneut ganz grundsätzlich die Sinnfrage: Inwiefern wird der Parlamentarische Untersuchungsausschuß zum Neukölln-Komplex seinem Auftrag, das Vorgehen der Ermittlungsbehörden zu untersuchen und aufzuklären, gerecht?

Wir laden euch ein zur nächsten Sitzung am 17. Mai um 9 Uhr, vorher findet ab 8:30 eine Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin statt.
Zeugin wird die aktuell zuständige Hauptkommissarin Emmert sein, die von Anfang an in die Mordermittlungen zum Mord an Burak Bektaş involviert gewesen ist.

P.S. NSU-Watch hat u.a. einen Bericht zu der Sitzung des parlamentarischen Untersuchung in ihrem Newsletter veröffentlicht, den könnt ihr unter diesem link lesen.

Pressemitteilung zur 1. Sitzung des PUA (Parlamentarischen Untersuchungsausschusses) “Neukölln-Komplex” am 12.4.2024 zum unaufgeklärten Mord an Burak Bektaş am 5.4.2012

Zeugen:

  • Alexander Hübner, der bis 2019 die Mordermittlungen zu Burak Bektaş leitete. Als Kommissariatsleiter beim Staatsschutz PMK Rechts ließ er danach 387 Fälle von politisch rechts motivierte Straftaten unbearbeitet.
  • Dieter Horstmann, leitender Staatsanwalt der Mordermittlungen zu Burak Bektaş, später Berater im Abschlussbericht zum Tod von Oury Jalloh, dann leitender Oberstaatsanwalt der Ermittlungen zu den „Silvesterrandalen“.
  • Lukas Theune, Anwalt der Familie Bektaş.

Melek Bektaş, die Mutter des ermordeten Burak Bektaş, ist zur Beobachtung des PUA anwesend.

In seiner Eingangserklärung bringt Kommissar Hübner seine vermeintliche Empathie für die Familie von Burak Bektaş zum Ausdruck, ohne jedoch irgendeine Kritik der Familie an den Ermittlungen aufzugreifen.
Hübner erklärt, die Mordermittler hätten alles ihnen Mögliche getan und intensivst ermittelt. Bei Nachfragen, ob und wenn ja wann die Tat als politisch rechts und rassistisch motiviert eingeordnet worden sei, und daraus folgenden Konsequenzen für die Ermittlungen macht er widersprüchliche Aussagen. Er berichtet in diesem Zusammenhang von einem Anruf von LKA-Leiter Steiof am Morgen direkt nach der Tat. Dieser habe auf die rechte Szene in Neukölln hingewiesen, dass der Fall Aufsehen erregen werde und von Austausch mit der Abteilung PMK rechts des LKAs gesprochen.
Dann sagt Hübner andererseits, für die Ermittlungen sei es egal, wer das Opfer ist, bez. Herkunft usw.. Die Ermittlungen verliefen unabhängig von solchen Kriterien. Und er betont vollmundig: „keiner der Ermittler der Mordkommission hat eine rassistische Einstellung.“

Es fällt immer wieder auf, dass Hübner die Fragen der Abgeordneten mittels sich wiederholender Formulierungen nicht beantwortet: So hat er sich angeblich nicht vorbereitet, kann sich nicht erinnern, verweist dann einfach darauf, das stehe doch in den Akten. Die Akteninhalte können aber nicht in der öffentlichen Sitzung behandelt werden, da sie der Innensenat als „NFD (nur für den Dienstgebrauch)“ und damit nicht für die Öffentlichkeit eingestuft hat. Wie praktisch! Das scheint beabsichtigt und die – offensichtlich sehr genau vorbereitete – Strategie geht auf, weil die Abgeordneten nicht konsequenter intervenieren, ihn nicht sofort mit seiner Ausweichtaktik konfrontieren und nicht inhaltlich vertiefend nachfragen.

Auch Horstmann behauptet, in keinem anderen ihm bekannten Fall sei so viel ermittelt worden.
Ein Beispiel, dass beide, Hübner und Horstmann, erwähnen, ist das Abgleichen des Mordfalls mit der bundesweiten Datenbank VICLAS. Als Hübner nach den dabei eingegebenen Suchbegriffen gefragt wird, sagt er, er wisse sie nicht.
Der Anwalt der Familie Bektaş, Lukas Theune, erklärt in seiner Aussage später, um welche Suchbegriffe es sich hier handelte: „Taten ohne Motiv oder Rache, religiöse, kulturelle Motive (…). Aber ein naheliegendes rechtextremistisches oder rassistisches Motiv wurde nicht eingegeben!“

Staatsanwalt Horstmann ist in der Offensive, stellt absurde und nicht den Tatsachen entsprechendeBehauptungen auf, verharmlost, redet von „perfektem Verbrechen”, ohne dass dem z.B. durch weitere konkrete Nachfragen etwas entgegengesetzt wird.
Er behauptet dreist, als leitender Staatsanwalt sei es nicht seine Aufgabe gewesen, das Verfahren zu leiten, konkrete Ermittlungstätigkeiten anzuordnen etc. Das ist eine Lüge. Seine Aufgabe ist genau dieses Steuern der Ermittlungen, insbesondere wenn die Aufklärung stockt. Und er fügt noch hinzu, er habe nicht in die Ermittlungen eingreifen müssen, denn die Mordkommssion habe ihre Arbeit sehr gut gemacht und perfekt in alle Richtungen ermittelt. Auf Frage nach Fehlern bei Ermittlungen antwortet er aalglatt: „Ich wüsste von keinen, nur, dass kein Ergebnis (vorliegt). Aber jeder 10. Mord wird nicht aufgeklärt.“

Rechtsanwalt Theune sagt dazu, es sei viel zu wenig in Richtung extrem rechte und rassistische Tatmotive ermittelt worden. Er erwähnt in diesem Zusammenhang auch, wie eine vom LKA Abteilung 5 zur Verfügung gestellte Liste mit rechten Straftätern auf absurd wenige, nämlich nur zwei zu überprüfende Personen, verengt wurde. Und „es habe kurz nach dem Bekanntwerden vom NSU keine Begründung dafür gegegeben, dass der Täter auf den Hintergrund Neukölln reduziert wurde. Der Täter hätte nicht wohnortbezogen vordefiniert werden dürfen.”
Zum NSU sagt Staatsanwalt Horstmann eiskalt: „NSU konnte man ausschließen, die waren ja alle tot oder in Haft.“ … ! Auch zu einer solchen falschen Behauptung wurden keine weiteren Fragen gestellt.

Theune beschreibt, wie die Arbeit der Anwälte von den Ermittler:innen lange Zeit als hinderlich und die Familie als nervend behandelt wurde. In diesem Zusammenhang erwähnt er die Thematik der „Auswerteberichte” und der “Auswerteeinheit operative Fallanalyse” (AE OFA), in denen die Ermittlungen mehrmals evaluiert und Empfehlungen für weitere Ermittlungshandlungen formuliert wurden. Auf parlamentarische Anfragen zu deren Erstellung und Umsetzung gab es immer wieder keine klärenden Antworten. Er schildert, wie auch der Familie nicht die Wahrheit gesagt wurde. Stattdessen wurden sie irregeführt, so dass der Eindruck entstand, es habe keine solchen Berichte gegeben. Und entgegen der Behauptung der Ermittlungsbehörden, sie hätten sich um die Familie gekümmert, betont er, dass die Familie sehr allein gelassen worden ist. Mit der neuen Ermittlerin, Frau Emmert, änderten sich die Dinge jetzt. Immer wieder tauchen bei ihrer Recherche Dinge auf, die von ihren Vorgänger:innen nicht zu den Akten genommen wurden.

Generell fiel im Laufe der Sitzung auf, dass Vieles thematisiert aber nicht geklärt wurde. Die Abgeordneten sprachen in ihren Befragungen zu den Ermittlungen wichtige Themen an, wie Tatmotiv Rassismus, Konsequenzen aus dem NSU-Komplex, Ermittlungen gegen Berliner und bundesweite Naziszene als potentielle Täter etc.. Wenn die Zeugen Hübner und Horstmann jedoch bei diesen Fragen immer wieder konsequent auswichen, sich mit taktisch eingesetzten Vorwänden weigerten zu antworten, wenn ihre Antworten gezielt irreführend waren und auf falschen Tatsachen beruhten, blieb das dann so stehen. Die Zeugen der Ermittlungsbehörden kamen wieder damit durch, viel zu ungebrochen ihre Version darzustellen und nichts Wesentliches offenzulegen. Wenn dies von der Presse auch noch reproduziert wird, so werten wir das als extrem problematisch.

Angesichts der vielen fragwürdigen Aussagen von Hübner und Horstmann, die in dieser Sitzung nicht eingehender betrachtet wurden, müssten unbedingt das Vorgehen und die tatsächliche Rolle der beiden und aller anderen in diesem Kontext Verantwortlichen geklärt werden, wenn der PUA seine Aufgabe ernsthaft erfüllen möchte.

Die nächste Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Neukölln-Komplex“ findet am Freitag dem 26. April statt.
Ab 8:30 Uhr findet eine Kundgebung statt und ab 9 Uhr begleiten wir die Befragung von Helga Seyb, Opferberaterin, dem Polizeibeamten Christian Schulz, der die VICLAS-Anfragen und Teile der OFA’s (operative Fallanalysen) machte und Martin Knispel, der Horstmann als leitender Staatsanwalt ablöste.

Audiomitschnitt unserer Kundgebung – 12 Jahre ohne Burak – 12 Jahre ohne Aufklärung

am Samstag, den 6.4.2024 am Gedenkort Burak Bektaş, Rudower Straße / Möwenweg, Berlin-Neukölln (Süd)

link – Archive.org / mp3 – Archive.org

0:00 – 2:20 Anmoderation
2:20 – 10:52 Redebeitrag Burak-Ini: 12 Jahre ohne Burak deutsch
10:52 – 20:22 Redebeitrag Burak-Ini: 12 Jahre ohne Burak türkisch
20:22 – 24:30 Schweigeminute und Blumen ablegen
24:30 – 27:00 Moderation
27:00 – 28:57 Grußwort Dortmund – Tag der Solidarität
28:57 – 32:40 Moderation Vernetzung Betroffener
32:40 – 35:59 Soligruppe 9. Oktober aus Halle
35:59 – 36:05 Moderation
36:05 – 39:29 Anmoderation Walter Frankenstein
39:29 – 40:51 solidarische Grüße von Walter Frankenstein, Shoa-Überlebender
40:51 – 41:34 Moderation Jorge João Gomondai
41:34 – 43:55 Moderation Ante P.
43:55 – 53:50 Rede Schwester Ante P. – Initiative 2. Mai Mannheim
53:50 – 54:35 Moderation
54:35 – 1:00:15 Aktives Gedenken Lichtenberg
1:00:15 – 1:00:43 Moderation
1:00:43 – 1:08:45 Hufeisern gegen Rechts
1:08:45 – 1:11:10 Moderation Anschlagsserie Neukölln-Komplex
1:11:10 – 1:20:36 Claudia zum PUA Neukölln-Komplex
1:20:36 – 1:21.13 Moderation
1:21.13 – 1:26:02 Grußbotschaft Ferhat Korçak, Betroffener des Neukölln-Komplex
1:26:02 – 1:26:43 Moderation
1:26:43 – 1:29:23 Worte von Phil Holland, Lukes Vater
1:29:23 – 1:29:55 Moderation
1:29:55 – 1:45:54 Burak-Ini PUA
1:45:54 – 1:47:55 Abschluß der Kundgebung

Audiobotschaften zur Kundgebung – 12 Jahre ohne Burak – 12 Jahre ohne Aufklärung

am Samstag, den 6.4.2024 am Gedenkort Burak Bektaş, Rudower Straße / Möwenweg, Berlin-Neukölln (Süd)

Wir haben mehrere Audiobotschaften zu unserer Kundgebung geschickt bekommen, die wir hier mit Dank veröffentlichen ().

Die Grußbotschaften sind von

– Tag der Solidarität Dortmund mp3 – Archive.org
– Ferhat Korçak, Betroffener des Neukölln-Komplex mp3 – Archive.org
– der Schwester von Ante P. – der Initiative 2. Mai Mannheim mp3 – Archive.org
– solidarische Grüße von Walter Frankenstein, Shoa-Überlebender mp3 – Archive.org

Rede von 9. Oktober Halle zum 12. Todestag von Burak Bektaş

„Wer gedenken will, soll aufklären.“

Das waren die Worte von Melek Bektaş, der Mutter von Burak Bektaş vor wenigen Wochen am 11. März auf der Pressekonferenz des Solidaritäts-Netzwerks von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer, antisemitischer Morde und Gewalt in Deutschland.

Aus unserer Arbeit mit der Soligruppe 9. Oktober und aus dem Netzwerk wissen wir, wie wichtig es ist, aufzuklären, was passiert ist und wie wichtig es ist, die politische Tatmotivation der Gewalttaten, Morde und Anschläge zu benennen und anzuerkennen. Denn nur dann ist es möglich, geforderte Konsequenzen umzusetzen und Gerechtigkeit herzustellen.

12 Jahre lang ist das für Burak und seine Freunde, die überlebt haben, nicht passiert. Wie schmerzhaft ist es zu wissen, dass alles dafür getan wird, dass dieser Mord nicht aufgeklärt wird? Wie schmerzhaft ist es zu wissen, dass auch 12 Jahre später bei ähnlichen Anschlägen und Gewalttaten wie zuletzt am 25. März diesen Jahres in Solingen, das Motiv verleugnet oder kleingeredet wird?

Vor 24 Stunden gab es einen Brandanschlag auf die Synagoge in Oldenburg. Auch hier sagt die Polizei, die Hintergründe sind unklar.

Heute jährt sich auch der Todestag von Halit Yozgat, der am 6. April 2006 vom NSU in Kassel ermordet wurde. Auch dieser Mord ist nicht vollständig aufgeklärt.

Für uns ist es klar, sowohl bei Burak, in Solingen oder in Oldenburg oder Kassel. Es sind mörderischer Rassismus und Antisemitismus. Das sind keine Angriffe „auf uns alle“, wie es zahlreich nach jedem Angriff durch die Pressekonferenzen deutscher Politiker_innen schallt. Das sind Angriffe auf uns, auf Burak, auf seine Familie, seinen Freund_innen.

Anfang diesen Jahres im Januar und Februar gab es einen erneuten Prozess gegen den Attentäter von Halle und Wiedersdorf. Der Prozess wurde geführt, weil er sich im Dezmeber 2022 im Gefängnis selbst eine Waffe gebaut und zwei JVA Beamte als Geiseln genommen hatte, um aus dem Gefängnis auszubrechen. Die Motive spielten beim Prozess und Urteil keine Rolle. Aber hören wir deswegen auf? Nein. Das geht einfach nicht.

Zachor – erinnere dich! ist eines der zentralen Prinzipien des Judentums. Dafür ist es wichtig, den Stimmen der Angehörigen von Ermordeten und den Überlebenden zuzuhören, immer wieder und wieder. Melek Bektaş, wir hören dich. Und wir werden dir weiterhin zuhören.

Solange unsere Herzen schlagen, werden wir zuhören und für Aufklärung kämpfen. Und solange wir uns erinnern, werden wir gedenken.

Wir als Soligruppe 9. Oktober sind bei euch.

In Erinnerung an Burak Bektaş, in Erinnerung an Jana L. und Kevin Schwarze.

(Redebeitrag der Soligruppe 9. Oktober zum Gedenken an Burak Bektaş, 6.4.2024)

Post von Tekiez, …

Gedenkiniative: Aktives Gedenken in Lichtenberg – Kurzer Redebeitrag zum Gedenken an Burak Bektas / 12. Todestag.

Liebe Familie Bektas, liebe Freunde und Engagierte. Danke das ich hier sein darf, um über rechte Kontinuitäten und Rassismus bei uns im Nachbarbezirk Lichtenberg zu sprechen.

Die Gedenkinitiative “Aktives Gedenken in Lichtenberg”, ist ein Bündnis aus Lichtenberg, die sich dem Gedenken an Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt verschrieben hat.
Wir gedenken Kurt Schneider, der 1999 am Urnenfriedhof von einer Gruppe Neonazis verfolgt und getötet wurde. Wir gedenken Eugeniu Botnari, der 2016 von dem Filialleiter des Edeka im Bahnhof Lichtenberg aus rassistischen und sozialchauvinistischen Motiven zu Tode geprügelt wurde. Seit vielen Jahren setzen sich Engagierte aus dem Kiez dafür ein, das Gedenken wach zu halten. Wir wollen um die Opfer trauern, und aufklären, wie groß die Gefahr des Rassismus ist. Nach vielen Jahren Gedenkarbeit, konnten wir bei Kurt Schneider eine Gedenktafel am Urnenfriedhof Lichtenberg installieren, und haben die Platzbenennung an Eugeniu Botnari am Bahnhof Lichtenberg erreicht.
Wir wissen aus der eigenen Arbeit wie zäh und mühsam solche Verfahren sind, aber wie wichtig es ist, das Gedenken wach zu halten und in der Stadt einen Raum, einen Platz zu haben, um innezuhalten.
Was uns aufgefallen ist: die Gedenkarbeit ist weitaus schwieriger, wenn der getöteten Person wie so oft die offizielle Anerkennung als Opfer rechter Gewaltverwehrt wird.
Dass sich Politik und Gesellschaft mit Benennung von Taten als rassistisch oder extrem rechts schwertut, zeigen auch eine Serie von Kellerbränden in Hohenschönhausen. Ich möchte euch nun von einer Brandserie im nördlichen Teil Lichtenbergs berichten, der uns seit über einem Jahr besorgt und Angst macht.

In Hohenschönhausen wurden seit Anfang 2022 mehr als 20 Keller in Brand gesteckt. Die Tatverdächtigen sind als rechte junge Männer im Bezirk bekannt. Sie haben geplant einen Geflüchtetenunterkunft anzugreifen und haben rassistische Drohschreiben verfasst, dass es weiter brennen würde, wenn die Migrationspolitik nicht gestoppt wird. Mehrfach sind sie mit rassistischen Aussagen, Hitlergrüßen und Brandstiftungen auffällig geworden. Angezündet wurden Müllcontainer, öffentliche Toiletten aber vor allem große Wohnhäuser mit jeweils über 20 Familien. Mehrere Familien verloren ihre Wohnungen, wurden mitten in der Nacht aufgeschreckt, weil sich der Rauch im Gebäude ausbreitete. Mehr als etwas Entschädigung für von Rauch und Löschwasser beschädigten Möbel gab es für Betroffene nicht. Die ständige Bedrohung als migrantische Bewohner*innen im Wohnhaus fand auch vor Gericht keine Ankerkennung- nein im Gegenteil die Betroffenen noch im Zeugenstand von einem der Tatverdächtigen verhöhnt und rassistisch beleidigt. Die Angst vor weiteren Bränden ist real.

Klar ist, dass nur durch massive Ermittlungsfehler der Hauptverdächtige in einem ersten Verfahren der Brandstiftung freigesprochen wurde. Ein Prozess gegen die restlichen Verdächtigen steht weiterhin aus, Betroffene warten seit Monaten vergeblich auf Klarheit. Stattdessen brennt es in Hohenschönhausen weiter.

Es ist nur schwer erträglich, dass diese Brände immer noch als Einzelfälle abgetan werden, oder davon berichtet wird ohne auf das geschlossen rechtsextremes Weltbild zu verweisen. Weder Bezirkspolitik noch Polizei scheinen sich für rechten Terror in migrantisierten Plattenbausiedlungen verantwortlich zu fühlen. Es zeigt sich mal wieder, dass Rassismus als zentrale Bedrohung für unsere Gesellschaft immer noch nicht in seiner Gefahr verstanden und ernst genommen wird. Nur durch die Aktiven vor Ort, wurden die Brände im Bereich des Rechtsextremismus kontextualisiert und eingeordnet. Weiterhin gibt es keine Informationen von Politik und Polizei für die Anwohner*innen, die weiterhin in der Sorge vor neuen Bränden leben müssen. Es zeigt sich erneut, dass wir uns nicht auf die Sicherheitsbehörden verlassen können. An dieser Stelle möchte ich nicht auslassen, darauf zu verweisen, dass die geistigen Brandstifter*innen in den Parlamenten sitzen. Rechte Parteien, allen voran die AfD haben dazu beigetragen den Hass gegen Minderheiten zu schüren und zu befeuern. Im Kontext der anstehenden Europawahl wird die rassistische Stimmungsmache weiter angeheizt werden.

Wir sind besorgt über rechte Kontinuität, die weiterhin Fahrt aufnimmt und längst im Alltag der Menschen verankert ist. Wir brauchen die Benennung und Verurteilung von rassistischen und rechtextremen Taten. Wir brauchen die Entschlossenheit Rassismus zu bekämpfen und Solidarität mit all jenen die davon betroffen sind. Das heißt für uns in aller erste Linie, dass wir über unseren Schatten springen müssen, ins Gespräch kommen mit den Nachbar*innen, ihnen mal eine Tasse Kaffee anbieten und fragen wie sie sich fühlen im Block, im Haus und in der Nachbarschaft. Eine solidarische Nachbarschaft ist die beste Voraussetzung, rechter Gewalt die Stirn zu bieten.

Wir gedenken heute an Burak Bektas.
Wir trauern mit den Angehörigen und Freund*innen.
Wir stehen zusammen und haben Hoffnung für eine solidarische Gesellschaft.